Ludologie

Ludologie: Spielwissenschaften und Spielforschung

Die Lehre vom Spielen, die Ludologie, ist eine noch recht unbekannte wissenschaftliche Disziplin. Das möchte ich ändern 🙂

In meiner voller Überzeugung, dass Johan Huzinga (1872-1945) mit der These in seinem Buch „Homo ludens – Vom Ursprung der Kultur im Spiel“ (1938) einen sehr hilfreichen Hinweis erarbeitet hat, dass unsere Kultur selbst den Charakter eines Spieles in sich trägt und Spiele unsere Kultur prägen, plädiere auch ich dafür, das Spielen ernster zu nehmen.

Bisher haben sich die Spielwissenschaften nicht als eigenständige akademische Disziplin entwickelt. Die dazu passenden Studiengänge fehlen. Dabei sind analoge Spiele (Brett- und Kartenspiele) oder auch digitale Games (Video-, Konsolen-, Computerspiele, Mobile Games, Serious Games) seit vielen Jahren zu einem ein wesentlicher Kulturfaktor und zum anderen ein elementarer Wirtschaftsfaktor geworden. Es wird Zeit, dass Politik und Wissenschaft dies wahrnehmen und entsprechend ihr Verhalten ändern.

Auf der Seite des Instituts für Ludologie beschreiben mein Team und  ich die Potentiale der Spielwissenschaften und Spielfroschung ausführlich. An dieser Stelle möchte ein Extrakt dazu liefern.

Komplexe Brettspiele aus Sicht der Ludologie die Grundlage für digitale Spiele
Komplexe Gesellschaften nutzen und entwickeln komplexe Spiele, ob digital oder analog, die Ludologie betrachtet die Brettspiele als „Mutter“ aller digitalen Spielkonzepte

1. Es ist Zeit für eine spielwissenschaftliche Forschung und Lehre

Schon 1978 konnte Brian Sutton-Smith (1924-2015), einer der wenigen international aktiven Spielforscher, empirisch nachweisen, dass komplexe Gesellschaften komplexere Spiele entwickeln und spielen.

Das Spielen beinhaltet eine dialektische Funktion („Kunst der Unterredung“), es erfüllt eine Austauschfunktion zwischen einer geistigen Ebene, einem Referenzsystem und dem jeweiligen Akteur, dem Menschen, der mit seinen Handlungen, seinen Spielzügen, den jeweiligen Spielstand oder seine Umwelt beeinflusst.

Durch die digitale Transformation stehen Wirtschaft und Gesellschaft vor gravierenden Veränderungsprozessen. Einfache Antworten, wie Trump, Brexit oder andere auf Nationalismus und Protektionismus setzende Regierungen sie formulieren, sind ein Beleg für Identitätskrisen und die gegenwärtige Überforderung der Politik mit einer inzwischen global vernetzten Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur positiv und zukunftsorientiert umzugehen.

In speziellen Spielbereichen, in denen Menschen sich durch die eigene Betätigung oder nur durch das Zuschauen in andere geistige Sphären erheben, sich in Flow-Zustände und Euphorie versetzen, gibt es ein umfassendes wissenschaftliches Angebot dazu: Sport, Musik, Literatur sowie Theater und Film. Brett-, Karten- und Gesellschaftsspiele haben unsere Kultur elementar geprägt. Durch die Digitalisierung verändert sich das Mediennutzungsverhalten der Menschen radikal und Computerspiele oder Mobile Games sind aus dem Alltag der Menschen nicht mehr wegzudenken. Spiele sind neben dem Kultur- auch ein relevanter Wirtschaftsfaktor geworden. Die Ludologie kann dazu zahlreiche Analysen und Erkenntnisse liefern.

Was meinen wir, wenn wir von „Kultur“ reden? Allgemein gilt, dass dazu alles gehört, was der Mensch selbst gestaltend produziert und hervorbringt, was er „künstlich“ erschafft, außerhalb der natürlichen Phänomene.

Im engeren Sinne, mit dem Fokus auf die geistige Komponente, auf den Menschen, der vom Baum der Erkenntnis genascht hat, wird Kultur als ein System von Regeln und Gewohnheiten beschrieben, das Ordnung schafft, Leitlinien für das Zusammenleben und das Verhalten formuliert. Wir Menschen scheinen Regeln zu brauchen uns fehlt ein natürlicher Instinkt für eine Sozialisation, die über unsere Familie oder Sippe hinausgeht.

Bienen, Ameisen, Fische oder Zugvögel besitzen natürliche Instinkte, die zu einem Verhalten führen, welches über das Individuum hinaus geht. Wir Menschen müssen mühsam lernen, uns zu sozialisieren. Besonders der heutige, globale, arbeitsteilige wirtschaftliche Austausch ist mehr, komplexer, als eine überschaubare kleine Gemeinschaft, innerhalb derer über einen simplen Tauschhandel alter Zeiten Gefälligkeiten und gegenseitige Verpflichtungen gepflegt werden.

Bienen, Bienenschwarm
Bienen: Instinkte organisieren die Arbeitsteilung, lassen über das Individuum hinaus ein Volk entstehen

Mit regulativen Ideen, Regelsystemen, absoluten oder offenen, endlichen oder unendlichen konstruieren wir erfundene Ordnungen. In Gesellschaften und sozialen Institutionen sind diese gestaltenden Menschen Entscheidungsarchitekten, in den erfundenen Ordnungen der Spiele: Game Designer.

Mit Hilfe der Ludologie Spielkulturen, Spielsysteme und Spielverhalten zu analysieren ist ein interdisziplinärer und transdisziplinärer Ansatz. Zum einen ist das Erkennisobjekt der Ludologie das allgemeine Spielen (Play), mit oder ohne Spielzeug (Toy) oder innerhalb eines Regelsystems, dem Spiel (Game).

Zum anderen bietet die Ludologie einen Blick auf das Ganze, auf die zahlreichen anderen künstlichen menschlichen Systeme, die oft gar nicht mehr als Spiel wahrgenommen werden, die sehr ernst und zumeist viel zu absolut und alternativlos, unveränderbar, wie Naturgesetze eingeschätzt werden. Sind sie nicht. Hier beginnt Innovation. Wir brauchen mehr Spielkompetenzen, um den aktuellen Herausforderungen der Veränderung gerecht werden zu können.

So wie Spiele uns in einen gedanklichen „Magic Circle“ führen, wir uns im Spielkontext oft besser fühlen, als in der Realität, so ähnlich funktionieren auch die anderen kulturprägenden spielerischen Erscheinungsformen wie z.B. Sport, Musik, Literatur, Theater und Film, die bisher als relevante Kulturträger staatlich und wissenschaftlich mehr Beachtung und Anerkennung fanden als das reine Spielen.

2) Wissenschaften rund um spielerisches Verhalten

 

a) Sportspiele: Sportwissenschaften

Fußballstadion, Sportspiele
Sportwissenschaften: Fußballstadion, Fußball zu spielen und den Profis dabei zugucken ist ein Massenphänomen und Milliardenspiel

Bewegungsspiele betreiben neben den Menschen auch Tiere. Eine unbewusste, instinktgesteuerte, indirekt initiierte „Leibesertüchtigung“, um vor Feinden weglaufen zu können oder beim Raufen unter Artgenossen Hierarchien festzulegen, steckt in unserer Natur. Auf der Basis unserer Sprache als Kulturtechnik haben wir es verstanden, Regeln zu formulieren. Aus den freien Bewegungsspielen heraus entstanden Regelspiele, die heute dazu geführt haben, dass Milliarden Menschen bei Sportereignissen am Fernseher oder per Stream im Internet professionallen Sportlern bei der Ausübung ihrer Spiele zugucken. Zahlreiche Sportarten aus den unterschiedlichsten Kulturkreise erfreuen sich einer hohen Beliebtheit weltweit oder sie führen ein Nischendasein als Randsportart.

Die Phänomene der Sportspiele werden von den Sportwissenschaften beobachtet, analysiert, erklärt und es entstehen Trainingskonzepte, die Leistungsoptimierung versprechen, die Parameter für das Erreichen von Flow-Zuständen definieren, Entscheidungsmodelle für das indiviudelle Sportverhalten liefern.

b) Musik spielen: Musikwissenschaften

Ludologie Musik spielen, Konzerte mit zahlreichen Zuschauern
Musikwissenschaften: Musik spielen, Konzerte mit zahlreichen Zuschauern, von Klassischer Musik bis Pop- und Rockkultur

Aus dem Umgang mit Tönen, haben Menschen die ersten künstlichen Geräusche produzieren wollen. Mühevoll wurden die ersten Musikinstrumente handwerklich hergestellt.

c) Gedankenspiele, Phantasiespiele, Narration: Literaturwissenschaften

Mit der Sprachentwicklung eines Kleinkindes beginnt die menschliche Fähigkeit, sich Dinge und Erlebnisse vorstellen zu können, die ich persönlich nicht real selbst erlebe. Wir können mit unseren Gedanken reisen, in die Vergangenheit, in die Zukunft und in die Personen, in ihre Rollen und Emotionen.

Ludologie, Gedankenspiele, Phantasiespiele, Narration, Literaturwissenschaften
Literaturwissenschaften: Gedankenspiele, Phantasiespiele, Narration

Manche Menschen empfinden das Lesen, das Spielen mit Gedanken, als eine der schönsten Freizeitbeschäftigungen, wenn wir mal von der Fachliteratur zu direkten Bildungszwecken absehen.

Aber auch Freizeitliteratur „bildet“. Durch das regelmäßige Lesen lernen wir indirekt neue Worte, frischen längst vergessene Vokabeln wieder auf und erweitern damit unseren Wortschatz, unsere Möglichkeiten, sich situationsbedingt adäquat ausdrücken zu können. Je häufiger wir mit schwierigen Worten konfrontiert werden, desto leichter prägen wir uns ihre Bedeutung ein. Und wenn wir anderen Menschen Texte vorlesen, dann lernt unser Gehirn noch intensiver, weil das gelesene Wort auch gehört wird. Dieser positive Effekt zum Ausbau unserer Lesekompetenz ist natürlich auch auf die individuelle Schreibkompetenz zu übertragen. Wir lassen uns beim Schreiben von den gelesenen Texten inspirieren.

Ebenso wie im Spiel treten wir beim Lesen aus der Wirklichkeit heraus, begeben uns in einen „Magic Circle“, konzentrieren uns auf die Geschichten, Bilder und Gefühle, die in unserem Kopf entstehen. Wir nehmen Abstand zu unserem vielleicht gerade anstrengenden realen Leben, tauchen ein in ungewöhliche Phantasiewelten. Ein solches Gedankenspiel entspannt uns, es wirkt wie ein kurzer Urlaub vom stressigen Alltag. Die Herausforderungen des täglichen beruflichen oder familiären Lebens treten in den Hintergrund, wir fokussieren uns auf die rein geistigen Erlebnisse in der gerade wahrgenommenen Literatur und ihrer Akteure oder Schilderungen.

Wenn wir Leser uns in einen Text hineinvertiefen, steigert dies unsere Empathiefähigkeit. Wir erspüren die Gedankenwelten anderer Menschen, lernen über unsere eigenen Wahrnehmungen, Einschätzungen und Bewertungen hinaus, das Leben anderer Menschen kennen und schätzen. Unsere soziale Kompentenz erweitert sich, wir entwickeln Sympathien für andersartige uns anfänglich fremde Menschen, lernen Vielfalt schätzen und können Toleranz üben.

Mit dem Eintauchen in Phantasiewelten schulen wir unsere Vorstellungskraft. Wir machen uns Gedanken über Sachen und Ereignisse, die es nicht gibt oder noch nicht gibt. Im Gegensatz zum Fernsehen oder dem Kino entstehen die Bilder und Emotionen zu diesen Erlebnissen eigenständig nur zwischen unseren beiden Ohren, wir sind kreativ. Mit dieser Fähigkeit, Kreativität zu entfalten, mehr Einfälle zu haben, werden wir Konflikte unserer Wirklichkeit leichter bewältigen können, weil wir vielfältigere Handlungsoptionen zur Auswahl haben. Wir erweitern lesend unseren Horizont, lernen vielleicht von anderen Kulturen und ihren Problemlösungsstrategien.

Mit guter Literatur vertieft sich ein Leser in die Gedankenwelt, die ihm ein Autor eröffnet. Er konzentriert sich auf den Lesestoff, lässt sich nicht ablenken, trainiert seine Konzentrationsfähigkeit und sein Gedächtnis. Mit dem Ausbau der mentalen Fitness sinkt das Risiko, an Alzheimer oder allgemeiner Altersdemenz zu erkranken, das Gehirn wird durch das Lesen und die komplexen Gedankenspiele kontinuierlich gefordert und gefördert.

 

d) Theater spielen, Rollenspiele: Theaterwissenschaften

Ludologie, Rollenspiele, Theater spielen
Theaterwissenschaften: Rollenspiele, Theater spielen. Organisierte Kultur mit Zuschauern seit der Antike

Salzburg

 

Institut für Spielforschung, Mozarteum, Salzburg
Direkt neben dem Landestheater, beim Eingang zum Marionettentheater in Salzburg, geht es zum Institut für Spielforschung am Mozarteum

Das Insitut für Spielforschung an der Universität Mozarteum im österreichischen Salzburg ist im Umfeld der Musik- und Theaterwissenschaften angesiedelt, befasst sich aber ausführlich mit den Grundlagen der historischen, europäischen, analogen Spielkultur. Es verfügt über eine weltweit einzigartige Sammlung von Graphiken mit Spielszenen, historischen Spielplänen und Spielbüchern, die aus der Zeit von 1541 bis 1914 stammen, rund 3.450 Objekte.

Spiele beeinflussen die Gesellschaft und die Gesellschaft wirkt auf die Spielentwicklung. Ob wir jetzt mit Sport, Musik, Gedanken und Sprache oder Theater spielen, so sind diese Spielformen Ausdrucksformen der Kultur.

3) Erfundene Ordnungen, die Menschen zusammenführen

Drei weitere erfundene, künstliche Ordnungen, die sich von den natürlichen Ordnungen aus Physik, Chemie und Biologie absetzen, formulieren ihr eigenen sozialen Gesetze auf der Basis regulativer Ideen:

  • Spirituelle, religiöse Ordnungen,
  • ökonomische Ordnungen und
  • politische Ordnungen.

Diese Ordnungssysteme lassen sich innerhalb der Ludologie als Regelspiele mit unterschiedlichen Ausprägungen beschreiben.

a) Regelspiele, Phantasiespiele, erfundene Ordnungen, Rituale: Religionswissenschaften und Philosophie

Ludologie Religion Glaube Kirche Dom Notre Dame Christentum
Erfundene Ordnungen, religiöse Ordnungen, regulative Ideen. Ludologisch gesehen: Regelspiele als geistige Notwendigkeit für fehlende Sozialinstinkte des Homo sapiens

Seit der Idee, dass es ein Leben nach dem Tode geben könnte, bauen wir Menschen Tempelanlagen für unsere Götter, um ihnen gemeinschaftlich huldigen zu können. So wie z.B. 11.500 v. Chr. in Göbekli Tepe, Südanatolien, wo wegen der riesigen Baustelle die ersten Menschen seßhaft wurden. Für die Bauarbeiter musste Weizen angenbaut werden, die Arbeitsteilung wurde komplizierter, Hirten und Nomaden zogen in Häuser, gründeten Städte rund um die Tempelanlage. Das neue Zusammenleben brauchte neue Regeln. Religionen und Philosophien enstanden.  Daraus haben sich die großen Weltreligionen Judentum, Christentum, Hinduismus, Buddhismus, Taoismus (Daoismus) und Konfizianismus  mit über 1.400 verschiedenen Religionsgemeinschaften mit ihren unterschiedlichen regulativen Ideen, Werten, Einstellungen und Normen für die Sozialisation, das Miteinander der Menschen weltweit entwickelt. Mal extrem absolutistisch, mal offen und tolerant. Ludologisch kann man die spirituellen, religiösen Ordnungen als Regelspiele auffassen.

b) Regelspiele, wirtschaftliche Ordnungen, Kapitalismus, Geldsysteme

Stadt, New York, Wolkenkratzer, wirtschaftliche Ordnung, Kapitalismus
Wirtschaftliche Ordnung Kapitalismus: Wohlstands- und Bevölkerungsexplosion, ökonomische Regelspiele auf Basis eines ungleichen Eigentumssystems

Ökonomische Ordnung

 

c) Regelspiele, politische, staatliche Ordnungen

Welt mit Nationalstaaten
Eine Welt aus Nationalstaaten: Erfundene Ordnungen, künstliche Systeme mit Identifikationscharakter

 

Staaten