1. Entstehungsgeschichte
Als junger Mensch hatte ich meine Ausbildung nach dem Abitur bei der Fachzeitschrift „SpielBox“ begonnen. Ich lernte die Brettspielbranche kennen und erlebte, wie die digitale Spielebranche heranwuchs. 1983 wurden in dem Heft 2 der Spielbox Brettspiele und „Telespiele“ (oder „Videospiele“), wie damals Computerspiele hießen, vorgestellt und besprochen (s. Cover mit Schlumpf und Schlumpfspiel). Anzeigenkunden wie Atari, Activision, Sony und Philips nutzen das Printmedium zur Bewerbung ihrer Produkte.

Es ging ein Riss durch die Redaktion und die Leserschaft. Vor einem Bildschirm würden doch die Menschen vereinsamen und das „richtige“, „gute“ Spiel trägt zur Gemeinschaft, zum sozialisierenden Miteinander bei und kann doch nur am Wohnzimmertisch gemeinsam erlebt werden. Es gab dann den Redaktionsbeschluss, in der SpielBox keine digitalen Spiele mehr besprechen zu wollen und den bestehenden Anzeigenkunden mit ihren „Telespielen“ zu kündigen. Dies musste ich als junger Mensch miterleben, der sich gerade entschieden hatte, wegen dieser breiten Fülle an Spielthemen, bei dieser Zeitschrift eine Ausbildung als Verlagskaufmann zu beginnen. So sah ich ab 1983 viele Software- und PC-Fachzeitschriften außerhalb meines Ausbildungsbetriebes entstehen und lernte intensiv im ersten Schritt Autoren, Spielverlage, Illustratoren, Spielesammler, Journalisten und Spielekritiker der Brettspielbranche kennen.
2. The Ludic Century: Ein ludisches Manifest
2013 veröffentlichte der US-amerikanische Game-Designer und Professor Eric Zimmerman sein Manifest auf kotaku.com, in dem er vom „Ludic Century“ sprach, dem jetzt kommenden ludischen Jahrhundert. Sein Ludisches Manifest stelle ich hier ins Deutsche übersetzt mit seinen markanten Aspekten dar, weil es damals zur Motivation der Institutsgründung beitrug und bis heute Gültigkeit hat.

Spiele sind uralt.
Wie das Musizieren (spielen eines Musikinstruments), das Erzählen von Geschichten (Gedankenspiele) und das Schaffen von Bildern (Illusionsspiele), ist das Spielen (hier meint Eric Zimmerman Regelspiele) ein Teil des Menschseins. Spiele sind vielleicht die ersten interaktiven Systeme, die Systeme, die unsere Spezies erfunden hat. Das erste künstlich erzeugte Spielzeug, erwachsen aus einem Phantasiespiel ist der Löwenmensch, 40.000 Jahre alt. Erste Glücksspiele werden auf 30.000 Jahre geschätzt und die ersten klassischen Brettspiele sind 5.000 Jahre als (Königliches Spiel von Ur und Senet).
Die Digitaltechnik hat den Spielen eine neue Bedeutung verliehen.
Der Aufstieg der Computer ist gleichbedeutend mit dem Wiederaufleben von Spielen in unserer Kultur. Das ist kein Zufall. Spiele wie Schach, Go und Pachisi sind so etwas wie digitale Computer, Maschinen zur Erzeugung und Speicherung numerischer Zustände. In diesem Sinne haben Computer keine Spiele erfunden; Spiele haben Computer (und moderene Grafikkarten) erschaffen. Komplexe Gesellschaften benötigen komplexe Spiele.
Das 20. Jahrhundert war das Jahrhundert der Information.
Systemtheorie, Kommunikationstheorie, Kybernetik, künstliche Intelligenz, Informatik – diese Gebiete, viele von ihnen entstanden lange vor den elektronischen Computern, aber sie trugen zur Entstehung der „Informationsrevolution“ bei. Die Abstraktion von Informationen hat massiv komplexe Bürokratien und Technologien möglich gemacht, von Telegrafen- und Telefonnetzen bis hin zur NASDAQ und Facebook.
In unserem ludischen Jahrhundert ist die Information ins Spiel gekommen.
Unsere Informationsquellen sind nicht mehr in riesigen Zettelkatalogen oder dem Gewirr von Rohrleitungen enthalten. Digitale Netze sind flexibel und organisch. In den letzten Jahrzehnten hat die Information sich in ein spielerisches Angebot und Verhalten verwandelt. Um ein Beispiel zu nennen: Bei Wikipedia geht es nicht darum, dass Nutzer auf ein großes Lager von Expertenwissen zugreifen. Es ist eine chaotische Gemeinschaft, in der die Nutzer auch die Experten sind, die gemeinsam die Informationen erstellen und und gleichzeitig das System als Ganzes weiterentwickeln.
Im 20. Jahrhundert war das bewegte Bild die dominierende kulturelle Form.
Während ebenso Musik, Architektur, das geschriebene Wort und viele andere Kulturformen im letzten Jahrhundert mit unterschiedlichen Ausdrucksformen aufblühten, hat sich das bewegte Bild durchgesetzt. Persönliche Erzählungen, Nachrichtenberichte, epische kulturelle Erzählungen, politische Propaganda – all das kam am stärksten durch Film und Video zum Ausdruck. Der Aufstieg des bewegten Bildes ist eng mit dem Aufstieg der Information verbunden. Film und Video als Medien liefern lineare, nicht-interaktive Informationen für die Betrachter.
Das Ludische Jahrhundert ist eine Ära der Spiele.
Wenn Informationen ins Spiel gebracht werden, ersetzen spielähnliche Erfahrungen lineare Medien. Medien und Kultur im Ludic Jahrhundert sind zunehmend systemisch, modular, anpassbar und partizipativ. Spiele verkörpern alle diese Eigenschaften in einem sehr direkten Sinne.
Die Art und Weise, wie die Menschen ihre Freizeit verbringen und Kunst, Design und Unterhaltung konsumieren, wird immer mehr zu Spielen – oder zu Erfahrungen, die Spielen sehr ähnlich sind.
Wir leben in einer Welt der Systeme.
Die Art und Weise, wie wir arbeiten und kommunizieren, wie wir forschen und lernen, wie wir Kontakte knüpfen und Romanzen pflegen, wie wir unsere Finanzen verwalten und mit unseren Regierungen kommunizieren, ist eng mit komplexen Informationssystemen verflochten – in einer Weise, die noch vor wenigen Jahrzehnten undenkbar gewesen wäre.
Für eine solche systemische Gesellschaft sind Spiele eine natürliche Ergänzung. Während jedes Gedicht oder jedes Lied sicherlich ein System ist, sind Spiele dynamische Systeme in einem viel wörtlicheren Sinne. Von Poker über Pac-Man bis hin zu Warcraft – Spiele sind Maschinen mit Inputs und Outputs, die bewohnt, manipuliert und erforscht werden.
Es besteht das Bedürfnis, spielerisch zu sein.
Es reicht nicht aus, nur ein Systemkenner zu sein, um Systeme im analytischen Sinne zu verstehen. Wir müssen auch lernen, spielerisch mit ihnen umzugehen. Ein spielerisches System ist ein menschliches System, ein soziales System, das voller Widersprüche und Möglichkeiten ist.
Spielerisch zu sein ist der Motor für Innovation und Kreativität: während wir spielen, denken wir über das Denken nach und lernen auf neue Weise zu handeln. Als kulturelle Form haben Games einen besonders direkten Bezug zum Spielen.
Wir sollten wie Game Designer denken.
Im Ludic Century können wir keine passive Beziehung zu den Systemen haben, die wir bewohnen. Wir müssen lernen, Designer zu sein, zu erkennen, wie und warum Systeme aufgebaut sind, und versuchen, sie zu verbessern.
Es hat mehrere Jahrzehnte gedauert, bis sich das Auto von einer Hobbytechnik, die dann Expertenwissen erforderte, zu einem massenhaften Verbraucherprodukt entwickelt hat. Der ständige Wandel der digitalen Technologie bedeutet, dass sich unsere Hardware- und Softwaresysteme möglicherweise niemals auf diese Weise stabilisieren werden. Wenn wir uns voll und ganz auf unsere Welt der Systeme einlassen wollen, müssen wir alle wie Designer denken.
Spiele sind wie eine Alphabetisierung.
Systeme, Spiel, Design: Dies sind nicht nur Aspekte des Ludic Century, sondern auch Elemente der Alphabetisierung mit Spielen. Bei der Alphabetisierung geht es um die Schaffung und das Verständnis von Bedeutung, die es den Menschen ermöglicht, zu schreiben (schaffen) und zu lesen (verstehen).
In den letzten Jahrzehnten wurden auch neue Lese- und Schreibfähigkeiten, wie visuelle und technologische Kompetenz entwickelt. Um im Ludic Century wirklich lesen und schreiben zu können, ist jedoch auch Spielkompetenz erforderlich. Der Aufstieg der Spiele in unserer Kultur ist sowohl Ursache als auch Wirkung der Spielkompetenz im Ludic Century.
Die Spielerkompetenz kann unsere Probleme lösen.
Die Probleme, mit denen die Welt heute konfrontiert ist, erfordern die Art des Denkens, das die Spielkompetenz hervorbringt. Wie wirkt sich der Gaspreis in Kalifornien auf die Politik des Nahen Ostens auf das Ökosystem des Amazonas aus? Diese Probleme zwingen uns zu verstehen, wie die Teile eines Systems zusammenpassen, um ein komplexes Ganzes mit emergenten Effekten zu schaffen. Sie erfordern spielerisches, innovatives, transdisziplinäres Denken, bei dem Systeme analysiert, umgestaltet und in etwas Neues verwandelt werden können.
Im Ludischen Jahrhundert wird jeder ein Spieleautor sein.
Spiele verändern das Wesen des Kulturkonsums. Musik wird von Musikern gespielt, aber die meisten Menschen sind keine Musiker – sie hören Musik, die jemand anderes gemacht hat. Spiele hingegen erfordern eine aktive Beteiligung. Die Entwicklung von Spielen umfasst Systemlogik, Sozialpsychologie und Kulturverständnis. Ein Spiel intensiv zu spielen bedeutet, mehr und mehr wie ein Spieldesigner zu denken – zu basteln, zu retroengineeren und ein Spiel zu modifizieren, um neue Spielmöglichkeiten zu finden. Je mehr Menschen im Ludic Jahrhundert spielen, desto mehr verschwimmen die Grenzen zwischen Spielern und Spieldesignern.
Spiele sind wunderbar. Sie müssen nicht gerechtfertigt werden.
Vor allem gilt: Spiele sind nicht wertvoll, weil sie jemandem eine Fähigkeit beibringen oder die Welt verbessern können.
Wie andere Formen des kulturellen Ausdrucks sind Games und das Spielen wichtig, weil sie wunderbar sind.
Die Ästhetik von Spielen zu schätzen – wie dynamische interaktive Systeme Schönheit und Bedeutung schaffen – ist eine
der reizvollen und beängstigenden Herausforderungen, vor denen wir in diesem anbrechenden Ludic Century stehen.
Die Ideen in diesem Aufsatz entstanden zunächst in der Zusammenarbeit mit den Wissenschaftlern Jim Gee, Rich Halverson, Betty Hayes, David Shaffer, Kurt Squire und Constance Steinkühler. Mein ganz besonderer Dank gilt der brillanten Heather Chaplin, die mit mir in vielen Gesprächen und Auseinandersetzungen die Ideen entwickelt hat. Dank an Nathalie Pozzi und John Sharp für das aufschlussreiche Lektorat und an Kirk Hamilton und Stephen Totilo für die Veröffentlichung auf Kotaku.com.
Seit der Formulierung dieses Manifestes ist sehr viel passiert. Die Annahmen, Vermutungen und vagen Einschätzungen haben sich inzwischen konkretisiert. Dieses Manifest war einer der thematisch zentralen Impulse, um das „Institut für Ludologie“ in Berlin gründen zu wollen. Eric Zimmermann hat mit seinem Team den Nerv getroffen. Es war an der Zeit, das Spielen und die Spiele ernster zu nehmen.
3. Gründung des Instituts für Ludologie
Im Okotober 2011 begann ich meine Tätigkeit als Professor an der design akademie berlin. Die Rektorin Prof. Dr. Dörte Schulze-Seehof kam irgendwann auf mich zu und meinte, ich solle als junger Professor nicht nur „klug schnacken“ sondern auch forschen. „Welches Thema würde Dich denn zum Forschen interessieren?“ fragte sie. Ich musste gar nicht lange darüber nachdenken. Mein ganzes privates und berufliches Leben wurde von Spielen begleitet. „Was mit Spielen!“ war meine spontane Antwort. „Na, dann leg‘ mal los.“

Bei meiner ersten Internetrecherche stieß ich auf das „Institut für Spielforschung“ in Salzburg, Österreich, und Dr. Rainer Buland. Hm. Ich guckte mir so an, was dort so die Themen waren und mir fiel auf, dass die Bezüge sehr analog und historisch waren. Mit meiner eigenen spielerischen Vergangenheit, der Ausbildung bei der SpielBox, den Spieleprogrammierungen bei Ticcon, den Daten aus 17.000 Casual- und Browsergames von spielen.de bei Mediatrust im Kopf, dem ludischen Manifest und dem Buch von Johan Huizinga im Bücherregal, kam ich auf den Namen „Institut für Ludologie“. Mein Ziel war und ist es bis heute, das Urphänomen der Natur, des Lebens und der Menschen ganzheitlich betrachten und erklären zu wollen. Und mir fehlte ein wissenschaftlicher Forschungsansatz, der diese Metaebene beschreibt.

Am 26. März 2025 war es endlich so weit, die Kulturministerkonfenrenz und die Bundesbeauftragte für Kultur und Medien, Claudia Roth, haben die Kulturform „Brettspiele spielen – Brettspielkultur in Deutschland“ in das bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes der UNESCO aufgenommen.
