Jürgen Junge

Jürgen Hermann Wilhelm Junge
(22.02.1926 – 16.03.2025)

 

Kindheit in Lübeck

Mein Vater wurde in Lübeck 1926 geboren und ist dort im Stadtteil St. Lorenz in der Wickedestraße 33/35 und der 37 aufgewachsen. Seine Eltern waren Erna Junge (geb. Lanzenberg) und Adolf Junge. Einige Fotos aus dem privaten Fotoalbum, ergänzt um historisch passende Aufnahmen, zeigen einige Aspekte seines Lebensweges, die auch mich und meinen Bruder Jörg stark geprägt haben.

 

Erna Junge (geb. Lanzenberg) und Adolf Junge mit ihrem Sohn Jürgen 1926
Erna Junge (geb. Lanzenberg) und Adolf Junge mit ihrem Sohn Jürgen 1926

 

Jürgen Junge (1929), Portrait
Jürgen Junge (1929), Portrait

 

 

Jürgen Junge (1929), stehend
Jürgen Junge (1929), stehend

 

Jürgen Junge (1931), Lausbub
Jürgen Junge (1931), Lausbub

 

 

Jürgen Junge (links, 1931), Straßenkinder in der Wickedestraße in Lübeck
Jürgen Junge (links, 1931), Straßenkinder in der Wickedestraße in Lübeck

 

 

Jürgen Junge (1932), Einschulung
Jürgen Junge (1932), Einschulung

 

Jürgen Junge (1935), Matrosenanzug
Jürgen Junge (1935), Matrosenanzug

 

 

Jürgen Junge (1936), Matrosenanzug und Schulklasse
Jürgen Junge (1936), Matrosenanzug und Schulklasse

 

Was (fast) alle machten: Hitlerjugend (HJ)

Mit neun Jahren ging Jürgen ab 1935 zur „Christlichen Jugend“, die dann schon bald verboten wurde und in der HJ mit ihrem Alleinvertretungsanspruch „aufging“. Es war ganz „normal“. Ab dem 10. Lebensjahr gingen die Kinder als „Pimpfe“ zur Hitlerjugend. Dort wurden sie auf einen Kriegseinsatz als Soldaten vorbreitet.

 

Jürgen Junge (1938), "Pimpf" in der Hitlerjugend
Jürgen Junge (1938), „Pimpf“ in der Hitlerjugend

 

 

Jürgen Junge im Zeltlager bei der Hitlerjugend (1938)
Jürgen Junge im Zeltlager bei der Hitlerjugend (1938)

 

Die Reiter-SA in Schleswig-Holstein hat eng mit der Hilterjugend zur Nachwuchserziehung zusammengearbeitet, so ergab sich die Besonderheit eines berittenen Fanfarenzuges in der HJ bei der Jürgen das Reiten lernte.

 

Jürgen Junge mit seinem Pferd bei der Hitlerjugend (1939)
Jürgen Junge mit seinem Pferd bei der Hitlerjugend (1939)

 

 

Jürgen Junge im Musikzug der Hitlerjugend (1939)
Jürgen Junge im berittenen Fanfarenzug der Hitlerjugend (1939)

 

 

Buch "Horst will unter die Soldaten", Nazi-Propaganda 1938
Buch „Horst will unter die Soldaten“, Nazi-Propaganda als Kinderbuch, 1938

 

Ein Artikel zu „Krieg und Spiel“ vom Institut für Ludologie zeigt, welche verklärenden, manipulativen Themen in einem Kinderbuch benutzt wurden, um das Soldatenleben als etwas Anstrebsames und Abenteuerliches im Nationalsozialismus darzustellen.

 

 

Jürgen Junge im Musikzug der Hitlerjugend mit Trompete (1939)
Jürgen Junge im Musikzug der Hitlerjugend mit Trompete (1939)

 

 

Jürgen Junge (1940)
Jürgen Junge (1940)

 

Luftangriff auf Lübeck am Palmsonntag, den 29. März 1942

Am 29. März 1942, dem Palmsonntag, der Sonntag vor Ostern, flog die britische Luftwaffe (Royal Air Force) einen ihr ersten Angriffe mit einem Flächenbombardement auf die mittelalterliche Hansestadt Lübeck. Der Vater, unser Opa, vom damals noch 16-jährigen Jürgen war vier Jahre Soldat im I. Weltkrieg 1914-1918. Bei dem Fliegeralarm um Mitternacht erkannte er anhand der ersten Abwürfe, dass die Briten Brandbomben nutzten, die duruch die Dächer der Häuser schlugen und sich dort dann das Phospor entzündete, um die hölzernen Dachstühle zu entflammen.

Palmsonntag, Lübeck, 29. März 1942, britischer Luftangriff, brennender Dom
Palmsonntag, Lübeck, 29. März 1942, britischer Luftangriff, brennender Dom (Foto: Bundesarchiv)

Beim Fliegeralarm liefen die meisten Menschen in die wenigen, vorhandenen Bunker oder in den eigenen Keller, um sich zu schützen, weil sie sich vor Sprengbomben in Sicherheit bringen wollten. Unser Opa entschied sich spontan dagegen und tat das Gegenteil, schrie seinen Sohn Jürgen an, dass sie mit Schaufeln bewaffnet auf das Dach ihres Hausen gelaufen sind. Dort oben standen sie und haben mit ihren Füßen und Schaufeln die einschlagenden Brandbomben vom Dach nach unten auf die Straße befördert, wo sie weniger Schaden anrichteten konnten, weil sich dort auf den Steinen nichts entzünden konnten und die Phosparflammen schnell erloschen.

Weltkrieg II, Lübeck, Palmsonntag, Luftangriff, Ruinen um die Marienkirche, 29.03.1942
II. Weltkrieg, Hansestadt Lübeck, Palmsonntag, britischer Luftangriff, Ruinen um die Marienkirche, 29.03.1942 (Foto: Bundesarchiv)

Auf dem Dach stehend, sahen sie dann zur Lübecker Altstadt herüber wo sich ein regelrechter Feuersturm entwickelte. Der Himmel wurde von den Flammen in einer sternklaren Nacht hell erleuchtet. Einige Nachbarhäuser gingen ebenfalls in Flammen auf, weil die Eigentümer und Bewohner in ihren Kellern hockten und kaum jemand auf die Idee kam, die Bomben oben zu bekämpfen. Alle warteten, bis der Angriff vorbei sein sollte und so wurden viele Menschen unter ihren zusammenstürzenden Häusern begraben.

II. Weltkrieg, Lübeck, britischer Luftangriff vom 29.03.1942, Sandstraße mit Marienkirche
II. Weltkrieg, Lübeck, britischer Luftangriff vom 29.03.1942, Sandstraße mit Marienkirche (Foto: Bundesarchiv)

Ihre geliebte Heimatstadt verbrannte vor den Augen unseres Opas sowie späteren Vaters. Die beiden konnten nur ihr eigenes Haus durch ihren Einsatz auf dem Dach retten, sahen aber über zwei Stunden hilflos zu, wie alles um sie herum durch das Feuer vernichtet wurde. Für den 16-jährigen Jürgen war dies ein sehr emotionaler Moment und der Entschluss stand fest, Schuld waren die „bösen Engländer“, gegen die er nun bald in einen Krieg ziehen wollte, von dem er meinte, er müssen seine Stadt und sein Vaterland verteidigen.

II. Weltkrieg, Lübeck, britischer Luftangriff vom 29.03.1942, zerstörte Alfstraße
II. Weltkrieg, Lübeck, britischer Luftangriff vom 29.03.1942, zerstörte Alfstraße (Foto: Bundesarchiv)

Bei Tagesanbruch war die gesamte Katastophe offensichtlich. Die Briten hatten 25.000 Brandbomben mit ihren 234 Flugzeugen abgeworfen. Nur 12 Maschinen konnten von der schwachen Lübecker Luftabwehr und ihren Flakgeschützen abgeschossen werden. Aus britischer Sicht ein voller Erfolg. Der Angriff sollte die deutsche Bevölkerung moralisch zermürben. Bei Jürgen löste der verheerende Luftangriff aufgrund der von ihm erlebten nationalsozialistischen Indoktrination während seiner Zeit in der Hilterjugend eine Motivation aus, endlich „unter die Soldaten“ zu wollen, weil er glaubte, für eine „gerechte“ Sache kämpfen zu müssen.

Reichsfinanzschule in Herrsching

Die deutsche Wehrmacht hat 1942 noch keine Soldaten aufgenommen, die nicht das 18. Lebensjahr vollendet hatten. Jürgen durfte noch nicht zum Militär, worüber seine Eltern natürlich sehr froh waren. Jürgen hat nach der 10. Klasse mit der Mittleren Reife die Schule beendet, um in den Staatsdienst zu gehen. Da er außergewöhlich gute Leistungen in Mathematik erbrachte, wurde er für eine Ausbildung an der Reichsfinanzschule vorgeschlagen, die in Herrsching am Ammersee bei München in Bayern war. Weit weg von der zerbombten Heimatstadt Lübeck. So begann er dort ab dem Sommer 1942 eine Ausbildung für den Zoll- und Verwaltungsbereich der Finanzämter.

Jürgen Junge (1942), Reichsfinanzschule in Herrsching am Ammersee, Bayern
Jürgen Junge, Reichsfinanzschule in Herrsching am Ammersee, Bayern, ab Sommer 1942

Zur Reichsfinanzschule gehörte ein Sportplatz und eine Sporthalle sowie das Schwimmen im nahegelegenen Ammersee als „Ausgleich“ zu einer intensiven und komprimierten Ausbildung für den öffentlichen Finanzbereich.

 

Jürgen Junge, Bahnhof Berchtesgaden in Bayern, 28.02.1943
Jürgen Junge, Bahnhof Berchtesgaden in Bayern, 28.02.1943

 

Reichsarbeitsdienst am Militärflughafen Bremen

Geschützstellungen zur Flak-Verteidigung des Bremer Flughafen wurden durch den Reichsarbeitsdienst gebaut.

 

Jürgen Junge beim Reichsarbeitsdienst an seiner Baracke am Bremer Flughafen, 1943
Jürgen Junge beim Reichsarbeitsdienst an seiner Baracke am Bremer Flughafen, Mitte 1943 bis zum D-Day am 06.06.1944

 

Jürgen Junge, Reichsarbeitsdienst bis Frühjahr 1944 in Bremen
Jürgen Junge, Reichsarbeitsdienst bis Frühjahr 1944 in Bremen

Wehrmacht, Kriegseinsatz und Desertation

Am 22. Februar 1944 wurde Jürgen 18 Jahre alt. Nun war die Zeit gekommen, zur Wehrmacht zu „dürfen“. Der Endsieg war noch nicht errungen. Im Gegenteil. Jürgens Vater als Weltkriegsteilnehmer von 1914 bis 1918, mit drei Kriegsverletzungen und entsprechenden Larzarettaufenthalten, ahnte nicht nur die kommende Niederlage, er hörte auch heimlich im Radio den „Feindsender“ BBC und riet seinem Sohn bei dem kommenden Einberufungsbefehl, sich auf jeden Fall „hinten“ zu halten. Die mathematischen Fähigkeiten von Jürgen waren eine Empfehlung für die Artillerie. Die Verlustrate mit den zahlreichen Toten bei der Infanterie waren wohl bekannt. Mit Mathe konnte man die Flugbahnen der Geschosse berechnen. Ein wesentliches Argument, nicht nach vorne zu müssen. Neben Jürgen wurden aber auch seine Klassenkameraden aus dem Jahrgang 1926 in diesem Jahr 1944 zur Wehrmacht eingezogen. Die Klasse hatte darüber hinaus „Glück“, weil im Westen eine neue Front entstand und die Kinder nicht an die Ostfront geschickt werden mussten.

Am 06.06.1944 landeten die Alliierten in Nordfrankreich, um Europa vom Nationalsozialismus und dem damit verbundenen Terrorregime zu befreien. Die deutschen Verteidigungslinien, der „Atlantikwall“, hielt dem Ansturm der britischen, amerikanischenn und kanadischen Soldaten nicht stand (s. Wikipedia, „Operation Overlord„, D-Day). Die Alliierten rückten schnell durch Frankreich, die Niederlande und Belgien vor, bis an den Rhein.

Operation Overlord, D-Day, Landung der Alliierten in Nordfrankreich am 06.06.1944, Omaha Beach
Operation Overlord, D-Day, Landung der Alliierten in Nordfrankreich am 06.06.1944, Omaha Beach (Foto: Wikimedia)

Und 18-jährige, ehemalige Hitlerjungs sollten nun schlecht bewaffnet als Soldaten gegen diese internationale Übermacht antreten?

Jürgen Junge (1944), Soldat in der Deutschen Wehrmacht
Jürgen Junge (1944), Soldat in der Deutschen Wehrmacht

 

Amerikanische Kriegsgefangenschaft

Die Flucht und das nächtliche Wandern waren nach ein paar Tagen beendet. Eine amerikanische Nachhut hat die zwei Jungs entdeckt und trotz der bewusst organisierten Zivilkleidung als deutsche Soldaten eingeschätzt. Es führte kein Weg vorbei. Beide kamen unverzüglich in die Kriegsgefangenschaft. Allerdings waren die Amerikaner noch gar nicht darauf vorbereitet, so viele deutsche Soldaten zu inhaftieren. Als Jürgen im ersten von Amerikanern erbauten Kriegsgefangenenlager in Rheinberg bei Duisburg ankam, stand noch gar kein Stacheldrahtzaun.

Kriegsgefangenenlager Rheinberg bei Duisburg 1945
Das erste amerikanische Kriegsgefangenenlager in Rheinberg bei Duisburg 1945 unter freiem Himmel (Foto: Archiv Stadt Rheinberg)

 

Kriegsgefangenenlager Rheinberg bei Duisburg

 

Im Juni 1945 wurde das Gefangenenlager an die britische Armee übergeben. Kurze Zeit später begannen die Briten, das Lager bis zum September reduzieren und auflösen zu wollen, weil man für den kommenden Winter keine Unterkünfte bauen wollte. An einem für Jürgen besonderen Tag hatten sich einige Gefangene in Hundertschaften aufzustellen und anzutreten. Jürgens Schulkamerad stand zufällig in einer Gruppe gegenüber, da rief sein Freund, „Komm‘ rüber, Jürgen, hier sind auch Leute aus Lübeck!“ Eine innere Stimme sagte aber zu ihm „bleib bei Deiner Gruppe stehen“, einige von den Leuten um sich herum kannte er ja auch schon. Außerdem wusste keiner, was jetzt passieren würde. Der britische Lagerkommendant schritt durch die Mitte der dort stehenden Männer. Blieb dann stehen, drehte sich um. Guckte nach links, guckte nach rechts. Und sagte dann: „Ihr könnt nach Hause“ und zeigte auf die Gruppe, wo mein Vater stand. Der anderen Gruppe sagte er: „Ihr kommt ins Arbeitslager.“ So musste sein Freund zusammen mit den Männer „auf der falschen Seite“ noch 1 1/2 Jahre in einem britischen Arbeitslager als Gefangener arbeiten und Jürgen wurde nach Hause geschickt.

Zufall? Fügung? Egal wie, nur durch dieses unvorhersehbare Ereignis mit seinen jeweiligen Konsequenzen, konnte mein Vater seine spätere Frau und unsere Mutter in Lübeck so früh kennenlernen. Wer weiß, ob dies eineinhalb Jahre später passiert wäre. So verdanke ich einem britischen Lagerkommandanten und seiner Laune wohl mein Leben…

 

 

Nachkriegszeit und Wiederaufbau

Jürgens Vater hatte seinen Sohn immer davon abgehalten in die NSDAP als Parteimitglied einzutreten. Trotz seiner unreflektierten Zeit in der Hitlerjugend und beim Reichsarbeitsdienst hätte er ab dem 17. Lebensjahr und dann auf jeden Fall als 18-jähriger Mitglied werden können.  Er tat es aufgrund des väterlichen Rates nicht. Zu seinem Glück. In der britschen Besatzungszone wurden für den Aufbau neuer staatlicher Strukturen genau solche Menschen, ohne Parteibuch, nach dem Krieg dringend gesucht. Jürgen erhielt sofort ein Angebot, bei der Zollfahndung einzusteigen, weil er ja die kurze Ausbildung an der Reichtsfinanzschule schon vorweisen konnte.

 

Traute Junge (geb. Wendt) und Jürgen Junge, Hochzeit in Lübeck am 30.06.1950
Traute Junge (geb. Wendt) und Jürgen Junge, Hochzeit in Lübeck am 30.06.1950

 

Das Leben im Alter

 

 

 

Jürgen Junge (2022)
Jürgen Junge (2022)

 

 

Jörg Junge, Jürgen Junge, Jens Junge, 22.02.2025, 99. Geburtstag
Jörg Junge, Jürgen Junge, Jens Junge, 22.02.2025, 99. Geburtstag